Nach dem Scheitern des Rahmenabkommens setzt die Schweiz auf technische Vereinbarungen mit EU-Ländern, um die Stromversorgung im Winter zu sichern. Falls dies nicht klappt, könnte es zu Blackouts kommen.
Christof Forster, Bern
47 Stunden ohne Strom: Das könnte der Schweiz schlimmstenfalls ab 2025 blühen. Im Frühling, wenn die Stauseen praktisch leer sind und nicht genug Strom importiert werden kann, um die Lücken zu füllen. Eine im Auftrag des Bundes erstellte Studie skizziert Szenarien und nennt erstmals konkrete Zahlen. Das ungünstigste Szenario ist jenes, bei welchem die Schweiz weder über ein Stromabkommen mit der EU noch über technische Vereinbarungen mit EU-Ländern verfügt. Dies könnte dazu führen, dass während zweier Tage der inländische Strombedarf nicht mehr gedeckt werden kann.
«Die Annahmen für dieses Szenario sind nicht völlig aus der Luft gegriffen», sagt Michael Bhend von der Stromaufsicht Elcom. Die Studienautoren gehen von einem Ausfall der Kernkraftwerke Beznau 1 und 2 aus. Zudem ist ein Drittel der französischen AKW-Kapazität nicht am Netz. Beides hat es schon einmal gegeben – im Winter 2016/17. Falls es zu zusätzlichen Produktionsausfällen kommt, könnte die Stromversorgung sogar bis zu 10 Tage lang ausfallen. Denn aufgrund des Ausstiegs aus der Atomkraft und der angestrebten Dekarbonisierung von Industrie, Verkehr und Wärme wird sich das Problem der Stromversorgung im Winter zusätzlich verschärfen.
Eine Welt ohne Strom könnte weitaus schlimmere Folgen haben als eine Pandemie. Laut den jüngsten Risikoanalysen des Bundes ist eine anhaltende, schwere «Strommangellage» derzeit das grösste Risiko für die Schweiz, noch vor einer Influenzapandemie oder dem Ausfall des Mobilfunks. Gemeint ist damit eine länger anhaltende Unterversorgung mit Strom im Winter. Die Vermögensverluste und wirtschaftlichen Einbussen wären in einem solchen Szenario immens, die Landesversorgung und die innere Sicherheit würden beeinträchtigt.
Ab 2025 kann es kritisch werden
Die Schweiz ist exponiert, weil sich 2025 etwas Entscheidendes ändert in der EU. Ab dann müssen alle europäischen Übertragungsnetzbetreiber mindestens 70 Prozent der grenzüberschreitenden Netzkapazitäten für den Stromhandel innerhalb der EU frei halten. Dies schreibt das Clean Energy Package der Europäischen Union vor. Laut der EU-Kommission dürfen die Nachbarstaaten die Handelskapazitäten mit der Schweiz nicht zu den 70 Prozent rechnen. Wie genau diese Vorgabe umgesetzt werden soll, ist auch in der EU noch nicht klar definiert. Aber es droht die Gefahr, dass die 70-Prozent-Regel die Importkapazitäten der Schweiz deutlich einschränkt.
Und es gibt einen weiteren Nachteil für die Schweiz: Als Drittland ist sie von den Mechanismen und Marktplattformen im europäischen Stromhandel ausgeschlossen. Dazu gehört die Kopplung von Strommärkten. Damit werden die Übertragungskapazitäten zwischen Ländern optimal ausgenutzt. Dies führt nicht nur zu höheren Kosten beim Stromhandel für die Schweiz. Dadurch nehmen auch die ungeplanten Stromflüsse im Schweizer Übertragungsnetz zu – und damit die Netz-Engpässe. Die nationale Netzgesellschaft Swissgrid ist gezwungen, öfter einzugreifen, um das Netz stabil zu halten. Wenn dazu Strom aus Wasserkraft eingesetzt werden muss, steht dieser den Verbrauchern nicht mehr zur Verfügung. Dies schwächt die Versorgung und ist überdies teuer. Dieses Szenario führt zu Wohlfahrtseinbussen von rund 150 Millionen Franken pro Jahr.
Die EU sitzt am längeren Hebel
Technische Vereinbarungen mit EU-Ländern würden helfen, zumindest einen Teil der negativen Effekte des Schweizer Abseitsstehens abzuschwächen. Entsprechende Verhandlungen laufen. Allerdings treibe die EU den Preis für solche Vereinbarungen in die Höhe, ist zu hören. Dies liegt auch an der Verhandlungsgrundlage: Brüssel räumt selbst Mitgliedsstaaten, die nur am Rande von einer Regelung mit der Schweiz betroffen sind, ein Vetorecht ein. Dies lädt dazu ein, Sonderwünsche gegenüber der Schweiz zu deponieren.
Solche Vereinbarungen würden zum Beispiel regeln, inwieweit der Stromhandel zwischen Frankreich und Deutschland zu einem Stromfluss durch die Schweiz führen darf. Aufgrund der physikalischen Gesetze im Stromnetz würde der Strom ohne Steuerungsmassnahmen zwischen den beiden Ländern via Schweiz fliessen und hier Transportleitungen besetzen.
Auch die EU ist interessiert an einem stabilen Netzbetrieb, der durch solche Vereinbarungen auf technischer Ebene begünstigt würde. Aber in der jetzigen Situation ohne Stromabkommen ist sie am längeren Hebel. Ob ein Abschluss rechtzeitig gelinge, sei noch unklar, schreibt der Bundesrat am Mittwoch in einer Medienmitteilung. Die Elcom hat deshalb die Politik aufgerufen, die inländische Stromproduktion und damit die Eigenversorgung zu erhöhen. Dies stärke die Verhandlungsposition der Schweiz. Es sei gut, in den Verhandlungen auf einen Plan B zurückgreifen zu können, sagt der Elcom-Vertreter Bhend.
Gaskraftwerk als letzte Sicherung
Neben den langfristig angelegten Kapazitäten zur Stromproduktion muss die Versorgung auch kurzfristig sichergestellt sein. Mit dem Ausbau der Photovoltaik werden Lastenausgleiche im Netz zunehmend wichtiger. Die Elcom wird dazu dem Bundesrat noch im November ein Konzept für ein Spitzenlast-Gaskraftwerk vorlegen. Dabei geht es um die letzte Sicherung zur Vermeidung eines Blackouts. Neben den Kosten und möglichen Standorten wird die Elcom auch die Auswirkungen auf die Klimapolitik beleuchten.
Gelingt der Schweiz der Abschluss von technischen Vereinbarungen, steht laut dem Bericht jederzeit genügend Energie zur Verfügung (bezogen auf 2025). Kritische Situationen könnten sicher bewältigt werden.
Die beste Lösung für die Schweiz wäre aber laut den Studienautoren ein Stromabkommen mit der EU. Damit wäre die Schweiz im Strombinnenmarkt den Mitgliedsstaaten gleichgestellt. Alle Regulierungen der EU – wie zum Beispiel die 70-Prozent-Regel – wären auch auf die Schweiz anwendbar. Kurz: Stresssituationen sind mit einem Abkommen am sichersten zu bewältigen. Der volkswirtschaftliche Mehrwert liegt bei 150 Millionen Franken pro Jahr.
Allerdings liegt ein Stromabkommen mit der EU nach dem Scheitern des Rahmenabkommens in weiter Ferne. Jüngst haben Politiker Ideen formuliert, die einen Ausweg aus der vertrackten Situation skizzieren. Der Walliser Mitte-Ständerat Beat Rieder schlägt eine Strom-Neat durch die Schweiz vor. Dabei soll diese der EU ermöglichen, Strom durch die Schweiz zu transportieren. Im Gegenzug könnte die Schweiz von der EU fordern, bezüglich Netzstabilität und Versorgungssicherheit als Partnerin auf Augenhöhe behandelt zu werden. Die Diskussion ist lanciert.
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